Deutschlands Gesamtwirtschaft befindet sich derzeit in einer schwierigen Lage. Die stahlproduzierende und -verarbeitende Industrie gehört zu den am stärksten betroffenen Branchen und die Folgen eines Niedergangs könnten verheerend sein. Doch was sind derzeit die größten Herausforderungen für die deutschen Stahlkocher – und wie wichtig ist diese Industrie hierzulande wirklich?
Hinweis: Alle Zahlen, Informationen und Prognosen in diesem Artikel spiegeln den Stand der Dinge im Januar 2025 wider.
Inhaltsverzeichnis: Das erwartet Sie in diesem Artikel
Zahlen und Fakten zur deutschen Stahlindustrie
In einem Land, das sich stark zu einer Dienstleistungswirtschaft entwickelte, so wie viele andere westliche Nationen, wirkt die Stahlindustrie auf „Branchen-Outsider“ mitunter archaisch – vielleicht sogar vernachlässigbar. Das ist jedoch nicht ganz richtig:
- Insbesondere bei Spezialstählen, die für zahlreiche Sonderanwendungen benötigt werden, ist Deutschland eine der führenden Produktionsnationen des Planeten. Das betrifft den medizinischen Bereich, wo für Instrumente, Implantate und verschiedene Gerätschaften hygienische, nichtrostende, antiallergische Sonderstähle nötig sind. Hier haben Deutschlands Spezialstähle einen international ebenso vorzüglichen Ruf wie etwa im Automobilbau, wo man höchstfeste Stähle beispielsweise benötigt, um leichtgewichtige, aber dennoch enorm steife Karosserien zu fertigen.
- Mit Jahreswerten von etwa 35 Millionen Tonnen (2023) ist Deutschland der siebt-größte Stahlproduzent der Welt, der größte der EU und deren Stahlindustrie-Triebmotor. 2023 etwa betrug unser Anteil im Staatenbund 28,1 Prozent – obwohl damals der Standort bereits Probleme hatte.
- Allein die stahlproduzierende Industrie erwirtschaftete 2022 gut 55 Milliarden Euro Umsatz und war Arbeitgeber für 90.000 Menschen. Rechnet man die sogenannten stahlintensiven Industrien hinzu, etwa Fahrzeug- oder Maschinenbau, dann hängen an der deutschen Stahlproduktion sogar 4 Millionen Arbeitsplätze (etwa 10 Prozent aller Beschäftigten) und zwei Drittel von Deutschlands Gesamt-Exportleistung.
- Insgesamt ist das produzierende Gewerbe für etwa 30 Prozent des Gesamt-Bruttoinlandsprodukts (BIP) verantwortlich. Stahlintensive Branchen haben daran einen Anteil von 55 Prozent. Stahl ist deshalb für zirka 17 Prozent von Deutschlands Wirtschaftsleistung direkt oder indirekt verantwortlich. Zum Vergleich: 2023 hatte der deutsche Einzelhandel einen Anteil von 15,5 Prozent.
Aufgrund seiner vielfältigen Einsetzbarkeit ist Stahl ein Grundwerkstoff. Die Branche gilt deshalb als unverzichtbare Schlüsselindustrie, mit der zahlreiche andere Wirtschaftszweige aufs Engste verflochten sind.
Mehr noch: Sie ist einer der wichtigsten Garanten für Beschäftigung, Forschung und Entwicklung.
Ferner ist die Stahlbranche für ein enormes Steueraufkommen verantwortlich – sowohl durch direkte Zahlungen als auch die der Beschäftigten, bei denen noch die Kaufkraft hinzukommt.
Wo Stahl in vielen anderen Nationen, darunter einigen „Stahlgiganten“, inzwischen bestenfalls eine nachgeordnete Rolle spielt, ist der Werkstoff in Deutschland immer noch ein zentraler Wirtschaftsfaktor.
Das macht jegliche Herausforderungen für die Branche zu einem gesamtwirtschaftlichen Problem. Geht es der Stahlbranche schlecht, geht es einem Großteil von Wirtschaftsdeutschland schlecht – auch umgekehrt.
Zwischen Bürokratie und Kosten: Die vielfältigen Belastungen des Stahlstandorts
2010 produzierte Deutschland noch 43,8 Millionen Tonnen Stahl; 2023 war der Wert auf 35,4 Millionen Tonnen geschrumpft. Im gleichen Zeitraum steigerte China seinen Ausstoß von 626,6 Millionen auf 1,019 Milliarden Tonnen.
Diese Zahlen geben bereits einen Einblick, wie es um die hiesige Branche bestellt ist. Die größte Schwierigkeit besteht dabei vor allem in einer großen, komplex verflochtenen Vielfalt von Herausforderungen.
Die allgemeine Wirtschaftslage
Wie erläutert: Die hiesige Stahlbranche steht am Ausgangspunkt eines sehr kleinteiligen Netzes zahlreicher anderer Branchen. Jegliche Krisen werden dadurch fast zwangsläufig zum Problem für deutsche Stahlkocher.
Darbt beispielsweise die Zuliefererindustrie der Fahrzeugfertigung, weil die E-Auto-Produktion keine komplexen Getriebe und ähnlichen Bauteile mehr benötigt, bekommt die Stahlbranche das direkt zu spüren. Geht es gleich der ganzen Autoindustrie schlecht, spürt Stahl es noch stärker.
Das ist ein Hauptproblem: Corona, Ukraine-Krieg, Inflation, politische Altlasten der Ära Merkel und (Fehl-)Entscheidungen der scheidenden Ampel-Regierung haben der deutschen Gesamtwirtschaft schwere Bürden auferlegt, wovon die Stahlwirtschaft direkt oder indirekt ihren Teil abbekommt.
Die globale Nachfrage
In vielen Ländern herrscht schon seit Längerem eine gewisse Flaute. Das betrifft eine so exportorientierte Nation wie Deutschland besonders stark. Doppelt schwierig: Ein Gutteil unserer Exportschlager sind Industriegüter – speziell aus metallintensiven Branchen.
Die Energiekosten
Um die Grundstoffe von Stahl aufzuschmelzen und das fertige Endprodukt weiterzuverarbeiten, sind hohe Temperaturen und entsprechende Energiemengen nötig.
Das betrifft, je nach Verfahren, vor allem Strom, Kokskohle und Erdgas.
Hier hat vor allem der russische Angriffskrieg für preisliche Verheerungen gesorgt. Gerade die Strompreise sind das vielleicht größte Einzelproblem der Stahlkocher.
In der Gesamtberechnung seien sie etwa doppelt so hoch wie vor Kriegsbeginn.
Diese Kosten müssen eingepreist werden. In der Folge werden deutsche Stahlprodukte teurer, worunter ihre Konkurrenzfähigkeit am Weltmarkt leidet.
Die CO2-Bepreisung
Stahlherstellung benötigt eine Reduktion von Sauerstoff aus dem Ausgangsmaterial. Wird dabei – wie global üblich – Kokskohle genutzt, entstehen zwangsläufig enorme Mengen CO2. Nicht nur ein Problem für das Klima, sondern die deutsche Stahlbranche.
Vereinfacht gesprochen (das System ist überaus komplex), sorgt das europäische Emissionsrechtesystem für eine Verteuerung von CO2-Emissionen. Zwar lagen die Preise 2021 bis 2022 wesentlich höher als heute, jedoch sind die Kosten immer noch erheblich größer als vor der Pandemie – und somit die Preise für deutsche Stahlprodukte.
Dagegen versucht die Stahlbranche durch Ausweichen auf wasserstoffbasierte Verfahren gegenzusteuern. Das erfordert jedoch nicht nur sehr teure Umbauten und Investitionen, sondern ebenso einen Ausbau der (grünen) Wasserstoffproduktion – genau dabei hapert es jedoch unter der scheidenden Bundesregierung deutlich.
Die Bürokratie
- umfangreiche, überaus komplexe Vorgaben,
- komplizierte, sich teils überschneidende behördliche Zuständigkeiten,
- geringe Planungssicherheit aufgrund politischer Querelen und
- träge, vielfach wenig digitalisierte behördliche Prozesse
legen der Industrie sehr viele Steine in den Weg. Das bindet Personal und erschwert das allgemeine Wirtschaften erheblich. Da es sich bei der Metallproduktion meist um große Industriebetriebe handelt, sind die Auswirkungen oft besonders dramatisch.
Die Demografie und Lohnstruktur – auch im internationalen Vergleich
Deutschland ist ein Hochlohnland. Insbesondere in der Industrie verdienen Beschäftigte, nicht zuletzt durch Tarifverträge, sehr gutes Geld. Das war mit einer der Gründe dafür, warum sich die deutsche Stahlindustrie so deutlich auf hochwertigste Produkte konzentrierte. Hier wirken sich die Lohnstückkosten weniger dramatisch aus als bei einfachen Massenstählen.
Das Problem ist aber: Die Konkurrenz schläft nicht. Andere Staaten haben ebenfalls ihre Metallurgie in qualitativer Hinsicht deutlich gesteigert. Sind dort Lohn- und Lebenshaltungskosten geringer, haben sie bereits einen Preisvorteil gegenüber deutschem Stahl. Kommen noch andere hiesige Kostentreiber hinzu, wird es noch schwieriger.
Damit jedoch nicht genug:
- Deutschland wird seit Jahrzehnten immer älter. Heute ist die Wirkung besonders dramatisch, weil mit den Baby-Boomern die letzten geburtenstarken Jahrgänge aus dem Arbeitsleben ausscheiden.
- Immer weniger junge Menschen zieht es generell in handwerkliche Berufe. Als personalintensive Industrie ist Stahl davon besonders betroffen. Gleichsam kommen immer mehr Kinder aus bildungsfernen Elternhäusern, wodurch sich häufig eine gefährliche Abwärtsspirale einstellt. An deren Ende sind von denen, die sich für Stahlberufe interessieren, viele nicht hinreichend grundqualifiziert.
- Ebenso genügt der Zustrom an ausländischen Fachkräften nicht, um die Personalfrage zu lösen.
Daher versucht die Stahlbranche, wie viele andere Wirtschaftszweige ebenfalls, durch Automatisierung, Digitalisierung, Robotik usw. gegenzuhalten.
Bloß erfordert das teilweise beträchtliche Investitionen. Und obwohl Deutschlands Stahlbranche eine Hightech-Industrie ist, lässt sich hier vieles nur deutlich schwieriger als in anderen Branchen umsetzen.
China
Man kann nicht über Stahl berichten, ohne dabei immer wieder auf China zu stoßen. Allerdings sind es nicht einmal nur die im Vergleich gigantischen Stahlausstöße dieses Landes von über 1 Milliarde Tonne pro Jahr. Es sind viel komplexere Dinge:
- In seinem Bestreben, in möglichst vielen Bereichen an der Spitze zu stehen, hat China zuletzt stark in eine bessere Metallurgie investiert.
Dadurch kann das Land immer häufiger Stähle einer Güteklasse anbieten, die zuvor primär in Deutschland produziert wurde.
- Im Gegensatz zu vielen westlichen Ländern herrscht in China ein staatskapitalistisches System, das sich aus kommunistisch-sozialistischen und regelrecht raubtierkapitalistischen Elementen zusammensetzt.
In der Folge kann das Land sich ein für alle marktwirtschaftlichen Konkurrenten geradezu verheerendes Preis-Dumping erlauben – darunter in vielen stahlintensiven Branchen.
- Das über Jahre hinweg gigantische Wirtschaftswachstum des Landes hat sich zuletzt deutlich abgekühlt.
Zugleich verlagerte China sich verstärkt auf eine indigene Produktion vieler Güter, die es zuvor importierte – unter anderem aus Deutschland.
Aufgrund seiner enormen Bedeutung für die Weltwirtschaft dürften derlei Auswirkungen sich mittelfristig kaum abmildern. Zumal im „Reich der Mitte“ weiteres Ungemach droht. Denn trotz einer Bevölkerung von 1,41 Milliarden Menschen leidet das Land unter einer bislang weltweit ungesehenen Vergreisung, einer direkten Folge der zur Geburtenkontrolle jahrelang betriebenen Ein-Kind-Politik. Dadurch besteht ebenfalls bereits einen Fachkräftemangel. Dieser dürfte sich, verschiedenen Quellen zufolge, 2025 auf bis zu 30 Millionen Menschen auswachsen.
Industrie in der Zwickmühle: Status quo der deutschen Stahlbranche
Erst kürzlich hat das Statistische Bundesamt für 2024 ein zweites Schrumpfungsjahr in Folge für die deutsche Wirtschaft vermeldet – Minus 0,2 Prozent. Diese Zahl allein mag nicht schlimm wirken – ist es jedoch für Wirtschaftsexperten sehr wohl. Zudem gibt es aus der Stahl- sowie stahlintensiven Industrie andere aktuelle Meldungen, die besorgniserregend sind. Etwa diese:
- Der österreichische Konzern Voestalpine kündigte an, sein Werk in Birkenfeld zu schließen.
- Die Stahl-Sparte von Thyssenkrupp wird bis 2030 insgesamt 11.000 Stellen hierzulande abbauen und einen Standort in Kreuztal-Eichen schließen.
- Seit 2020 baute die deutsche Autozuliefererindustrie zirka 86.000 Stellen ab. Insgesamt wurden bzw. werden mehrere Dutzend Standorte geschlossen.
- Ende 2024 stoppte das Elektrostahlwerk Riesa die Produktion aufgrund extremer Strompreise für zwei Tage. Derartiges kam in deutschen Stahlwerken in den jüngsten drei Jahren bereits mehrfach vor. Etwa die Lech-Stahlwerke, die bereits im Frühjahr 2022 so vorgingen.
- Das brandenburgische Stahlwerk Henningsdorf steht seit dem Jahreswechsel 2025 still. Vorerst wird die Belegschaft für drei Monate in Kurzarbeit gehen.
Diese Liste ließe noch fortführen. Es hat schon seinen Grund, warum im September 2024 ein nationaler Stahlgipfel in Duisburg stattgefunden und Kanzler Scholz noch nach der Ampel-Implosion zu einem weiteren Gipfel ins Kanzleramt eingeladen hat.
Kurzum: Die Situation für die Stahlindustrie sowie die stahlintensive Industrie ist derzeit ohne Übertreibung brandgefährlich. Dazu ein Zitat der IG-Metall anlässlich des Duisburger Stahlgipfels:
„Die heimische Stahlindustrie steckt in der Krise. Sie hat erheblich
an Wettbewerbsfähigkeit verloren und die Gründe dafür liegen in den politischen Rahmenbedingungen: Hohe Energiepreise und ein unfairer internationaler Wettbewerb, dem die Politik nicht genügend entgegensetzt, zerstören das Geschäft der Stahlhersteller.“
Ironischerweise ist das sogar schlecht für die Umwelt.
Potenzielle Folgen einer wegbrechenden deutschen Stahlbranche
Was anhand der genannten Wirtschaftsdaten deutlich wurde: Die Stahlindustrie sowie die stahlintensiven Industrien gehören zu den mit Abstand wichtigsten Branchen der deutschen Wirtschaft.
Es genügt ein Blick nach Großbritannien, um zu sehen, wie die Folgen aussehen können. Das Land hat während der großen Stahlkrise zwischen den späten 1960ern und frühen 1990ern andere Lösungswege vorgezogen als beispielsweise Deutschland. Dadurch wurde das einstige Mutterland der Industrialisierung zu einem Negativvorbild der Deindustrialisierung. Dort hat das verarbeitende Gewerbe heute lediglich noch einen einstelligen prozentualen Anteil an der Bruttowertschöpfung – in Deutschland sind es über 20 Prozent.
Doch was wären die Folgen in einem Deutschland, in dem stahlerzeugende und stahlintensive verarbeitende Industrien aufgrund all der Herausforderungen wegbrächen?
Die Umwelt
„Weniger Stahl ist gleich weniger CO2-Emissionen“. Dieser oft ausgesprochene Satz ist eine klassische „Milchmädchenrechnung“. Wahr ist nur, dass Deutschlands CO2-Eintrag sinken würde. Global betrachtet würde er dagegen steigen. Denn der Stahlbedarf bliebe gleich. Jedoch würde er durch emissionsintensivere Werke gedeckt. Denn selbst hiesige mit Kokskohle betriebene Werke sind in Sachen Klimaemissionen deutlich besser aufgestellt als es in vielen anderen Staaten der Fall ist.
Das Steueraufkommen
All die relevanten Industrien sind durch ihre große Wirtschaftsleistung für erhebliche Teile des hiesigen Steueraufkommens verantwortlich. Das heißt: Sie zahlen in verschiedener Form direkt Steuern in Höhe mehrerer Milliarden Euro an den deutschen Staat.
Allerdings würde nicht nur dieses Geld fehlen. Zu betrachten sind ebenso die vier Millionen Beschäftigten. Jeder Einzelne davon erbringt durch sein Gehalt weitere Steuern. Ebenso nutzt er dieses Geld, um Waren und Dienstleistungen zu kaufen, womit wiederum unter anderem Mehrwertsteuerzahlungen sowie Steuerzahlungen anderer Branchen verbunden sind.
Ein Paradebeispiel für einen kaskadierenden Effekt, der erheblich größere steuerliche Kreise ziehen würde als vielleicht vermutet. Im Endeffekt hätten Bund und Länder in jedem einzelnen Jahr erheblich weniger Geld zur Verfügung und müssten mehr ausgeben, denn:
Die Arbeitslosenzahlen, ihre Kosten und Folgen
Laut aktuellen Angaben hatte Deutschland im Dezember 2024 2,8 Millionen Arbeitslose. Gehen wir nur davon aus, dass die Stahl- und stahlintensive Industrie hierzulande halbiert würde, dann würden daraus auf einen Schlag 4,8 Millionen Menschen.
Zum Vergleich: In den späten 1990ern, als Deutschland der „kranke Mann Europas“ war, beliefen sich die Werte auf 4,38 Millionen (1998). Nur 2005 gab es mit 4,86 Millionen vergleichbare Werte.
In unserem Szenario wäre jedoch aufgrund der enormen wirtschaftlichen Bedeutung von Stahl nicht einmal garantiert, dass es bei diesen 4,8 Millionen bliebe. Aufgrund der intensiven wirtschaftlichen Verflechtungen könnten ebenso weitere Branchen in Mitleidenschaft gezogen werden, die nicht direkt mit dem Metallwerkstoff verbunden sind.